Acht polnische Zeitzeugen besuchen das EMG

Zeugen des Naziterrors

Besondere Beziehung: Anna Szafraniec erzählt mit Hilfe von Übersetzer Max ihre bewegende Geschichte

Am 16.September besuchten acht Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs das EMG.

Ihre Mission war nicht nur den Schüler/innen der EF und den Geschichtskursen der Q1 ihre Geschichten zu erzählen, sondern auch der Frieden. Die Zeitzeugen wurden alle zwischen 1936 und 1945 in Polen geboren und erlebten den Krieg und die Nachkriegszeit. Alle Zeitzeugen brauchten Übersetzer, da sie nur Polnisch sprachen, die Übersetzer waren alle Freiwillige und einer von ihnen war ein ehemaliger Schüler unserer Schule.

Die Zeitzeugen sind extra aus Polen angereist, um 80 Jahre nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann, aus ihrem Leben zu erzählen.

Sie wurden von den Schülern des Geschichte-LKs empfangen und zu den Räumen gebracht, wo sie jeweils auf einen Kurs der EF bzw. Q1 trafen. Trotz ihres hohen Alters beharrte die Zeitzeugin, die ich begleitete, darauf, die Treppe anstelle des Aufzuges zu nehmen.

Die Zeugin, welche mir ihre emotionale und beeindruckende Geschichte erzählte, hieß Anna Szafraniec und wurde am 18.Oktober 1936 in der Stadt Czeladz in Oberschlesien geboren. Ihre Geschichte hat mich emotional sehr bewegt und es tut mir sehr leid, dass ihrer Familie und vielen anderen etwas derartig Schlimmes angetan wurde.

Frau Szafraniec ist das jüngste von drei Kindern einer Bergmannsfamilie. Nach dem Überfall auf Polen engagierte sich ihr Vater in einer Organisation, namens Weißer Adler, gegen die deutschen Besatzer. Da er von jemanden verraten wurde, wurde die Familie aus ihrem bis dahin relativ normalem Leben gerissen.

Nach ihrer Erzählung standen eines Tages im Jahre 1943 NS-Soldaten in ihrem Dorf und brachen in ihr Haus ein. Sie zerstörten die Möbel und suchten nach ihrem Vater, welcher jedoch auf der Arbeit war. Der große Bruder von Frau Szafraniec war auf Ferienfreizeit und somit auch nicht zu Hause. Ihre große Schwester und ihre Mutter wurden mit 73 anderen Familien, darunter ca. 150 Kindern, auf Lastwagen verladen und fortgebracht.

Anna wurde erst vergessen, doch die Soldaten kamen zurück und holten sie auch. Ihr erstes Lager war eine Schule, auf dem Schulhof wurden zuerst Jungen und Männer von Mädchen und Frauen getrennt. Die Männer wurden sofort weggebracht. Zwei Tage später wurden Anna und ihre große Schwester von ihrer Mutter getrennt.

Ein Wiedersehen hat es nicht gegeben, da ihre Mutter in das Konzentrations- und Vernichtungslager Ausschwitz gebracht und dort relativ schnell ermordet wurde. Ihr Vater, das erfuhr sie erst 2005, wurde in einer Reihe mit anderen erschossen. Auch ihr Bruder starb durch Erschießen.

Die siebenjährige Anna Szafraniec wurde mit ihrer Schwester in insgesamt vier weitere Lager gebracht, teils waren es Fabrikhallen, auch ein umfunktioniertes Kloster war dabei. Die Kinder um sie herum waren zwischen 15 Jahren und wenigen Monaten alt. In der Zeit des ersten Lagers starben viele der Kleinsten, obwohl sich die älteren um sie kümmerten.

Eine Zeitzeugin betonte immer wieder, welches Glück sie hatte, dass ihre große Schwester da war, deren Fürsorge sie sicher sein konnte. In den Kinderlagern lebten sowohl Jungen als auch Mädchen. Wer alt genug war, musste in deutschen Betrieben arbeiten. Bis zu 24 Stunden am Stück. Wer starb, wurde binnen eines Tages durch ein neues Kind ersetzt.

Zum Frühstück und Abendessen bekamen die Kinder nur eine Scheibe Brot, mittags gab es eine Suppe aus Gemüse, welche selbst angebaut und gekocht wurde. Es war wenig, für Anna reichte es gerade, um zu überleben. Die hygienischen Bedingungen waren schlecht. Ohne Heizung und mit der leichten Kleidung am Körper, die sie seit dem Tag trugen, an dem sie inhaftiert worden waren, überlebten viele Kinder den Winter nicht.

Markiert wurden die Kinder durch eine Kette mit einem Namensschild. Wenn man dieses Schild verlor oder es wagte, sich gegen die deutschen Soldaten aufzulehnen, wurde man hart bestraft, berichtete Frau Szafraniec.

Wegen des Vorrückens der Roten Armee flohen die Deutschen und ließen die Kinder im Lager zurück. Diese wunderten sich, dass sie nicht wie üblich zur Arbeit gebracht wurden und waren ratlos. Ein paar Jungen bekamen Waffen in die Hände und schossen vor Freude und Übermut in die Luft. Die sich nähernden sowjetischen Soldaten dachten, die Deutschen wären zurück, und begannen den Angriff auf das Lager.

Doch statt NS-Soldaten fanden sie ausgemergelte polnische und weißrussische Kinder vor. Dank der weißrussischen Kinder gelang die Verständigung mit den sowjetischen Soldaten, die den Kindern zu essen und zu trinken und die Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren, gaben.

Die zweiwöchige Zugfahrt schilderte Frau Szafraniec als Grenzerfahrung, sie habe nicht gewusst, ob sie ankommen würde. Anna und ihre ältere Schwester, nun Waisen, wurden von ihrer Oma aufgenommen. Anna wog nur noch etwa 20 Kilogramm, hatte keine Haare mehr, konnte kaum laufen und erblindete zeitweise.

Nach vielen erfolglosen Therapieversuchen kam sie in ein internationales Krankenhaus in Dänemark, wo sie wieder gesund wurde. Als ihre Schwester und ihre Oma sie besuchen kamen, erkannten sie Anna erst auf den zweiten Blick, da sie wieder „wie ein Mensch" aussah, Haare auf dem Kopf hatte und laufen und sehen konnte.

Zurück in Polen ging sie zur Schule, musste jedoch acht Schuljahre in vier bewältigen, sie machte Abitur und wurde Mathe- und Pädagogiklehrerin. Im Jahre 1957 heiratete sie und bekam zwei Kinder.

Das war ein Teil der Geschichte von Frau Szafraniec und ich bin ihr sehr dankbar, dass sie sie uns erzählt hat. Ich konnte sehen, dass sie während des Erzählens immer wieder an ihre Grenzen gegangen ist und alles noch einmal erlebt hat.

Es ist etwas anderes, zu lesen, was damals geschehen ist, und es von einer Person zu hören und ihre Emotionen zu sehen. Sie hat uns mehr als nur ihre Geschichte erzählt, sie hat auch unser Bild der sowjetischen Soldaten geändert. Sie beschrieb sie als helfende Befreier und nicht als blutrünstige, Schrecken verbreitende Eroberer. Die sowjetische Armee war es auch, die  Ausschwitz „befreite“, nicht die Amerikaner, wie viele glauben.

Ebenso besonders fand ich die Beziehung zwischen Übersetzer und Zeitzeugin: Er, Anfang Zwanzig, ehemaliger Schüler des EMGs und inzwischen Berufssoldat der Deutschen Bundeswehr, der Sonderurlaub bekam und eine längere Anreise auf sich nahm, traf zum zweiten Mal auf sie, Anfang Achtzig, Opfer der menschenfeindlichen NS-Besatzungspolitik, die aus Polen anreiste, um jungen Menschen ihre Geschichte zu erzählen.

Die Freude an dieser Begegnung und ihrem gemeinsamen Einsatz für den Frieden war beiden anzumerken. Als sie sich verabschiedet haben, beugte er sich zu ihr runter, um sie in den Arm zu nehmen. Der Frieden zwischen beiden war spürbar und ein Teil eines großen. Frieden bedeutet nicht nur, dass es keinen Krieg gibt, sondern auch, dass ganz unterschiedliche Menschen aufeinander zu gehen.

Ich danke allen dafür, dass sie dieses Treffen möglich gemacht haben.

Laeticia Hochweller, Q1

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